nachdem wir nun immer wieder in verschiedenen Beiträgen zu den Themen Schussablauf, Zielvorgang etc. gelesen haben, ob dieser nun bewusst oder unbewusst ablaufen sollte/abläuft, möchte ich hier noch mal ein paar Gedanken, Informationen aber auch Thesen zusammentragen, die sich grundsätzlich mit dem Körperteil befassen, das da zwischen den Ohren sitzt und normalerweise eine höhere Funktion hat, als nur zu verhindern, dass es uns in Hals hineinregnet.
Im Folgenden verwende ich zum Teil Bilder aus meinen PPTs zum Thema "Mentaltraining", die ich in Seminaren, Workshops und Trainingslagern verwende. Die Bewertung, welche Informationen wir hier im Forum lesen und dann als korrekt ansehen können, scheint nicht so einfach zu sein, wie es den ersten Anschein nach aussieht. Es wird gerne nach "wissenschaftlichen Studien und Untersuchungen" gefragt, die Aussagen stützen sollen. Wer sich aber einmal mit der Gehirnforschung ein wenig versucht zu beschäftigen (und das tue ich zu einem großen Teil im Zuge meiner Tätigkeit als Mentaltrainer) wird schnell feststellen, dass wir hier erst am Anfang stehen. Dass (vermeintliche) Erkenntnisse von vor 20, 30, 40Jahren auf einmal nicht mehr gelten und völlig in eine andere Richtung gehen oder eben auch mal noch mehr bestätigt werden. Heißt das, das die damaligen Erkenntnisse völlig falsch waren? Ich finde NEIN. Aber Betrachtungsweisen haben sich geändert und natürlich auch die technischen Möglichkeiten.
Daher ist es sehr wichtig, dass man seine eigene Betrachtungsweisen/-winkel immer offen hält. Man sich nicht auf einen Betrachtungspunkt festlegen sollte. Grundsätzlich basiert unsere Sichtweise ja auf unserem ganz persönlichen Wertesystem (siehe Bild): Wir nehmen eine Information mit den uns zur Verfügung stehenden Sinnen (hören, sehen, riechen, schmecken und fühlen) auf und dann folgt im Gehirn die "Interpretation/Bewertung" dieser Information. Diese Bewertung basiert auf unserem ureigenen Erwartungen, Erfahrungen, Prägungen, Annahmen. Ist das richtig oder falsch? Ist das schön oder hässlich? Ist das heiß oder kalt? Ist das Gras hellgrün oder dunkelgrün? Ist das Zuggewicht zu hoch oder eher passend?
Gerade in unserem Sport ist es daher nicht verwunderlich, dass es so viele Varianten an Material aber eben auch Schießstilen gibt. Welche ist denn nun die richtige? Die Vorgaben/Vorschläge, die physikalisch berechnet werden können? Oder gilt hier doch die Aussage "Wer trifft, hat Recht!"?
(Ich sehe jetzt schon Köpfe rauchen und Argumente zusammensuchend, um eine Antwort darauf zu erstellen )
Ich denke, dass jede Betrachtungsweise ihre Daseinsberechtigung hat. Es kommt eben auf den Blickwinkel an. Bogensport zählt (neben Golf) zu den komplexesten Sportarten überhaupt. Ich kann Material und Schützen rein physikalisch betrachten:
Welcher Pfeil passt rein rechnerisch jetzt genau zu dem Bogen mit dem Zuggewicht? Dazu gibt es reichlich Informationen inzwischen. Neben den Spinewerttabellen von Easton, die seit Jahrzehnten zur Verfügung stehen, sind dort auch inzwischen Programme entwickelt worden, die eine immer genauere Auswahl der Komponenten möglich machen. Also müsste es ja total einfach sein, wenn man das tatsächliche Zuggewicht eines Bogens ermittelt hat, den entsprechenden Pfeil dazu zu fertigen und alles müsste passen, richtig? Tja, dem ist leider nicht so. Diejenigen, die fähig sind, über den Tellerrand der Physik hinaus zu blicken und sich mit den verschiedenen Betrachtungswinkeln auf unseren Sport beschäftigen wissen das auch. Solche Tabellen, Programme und Berechnungen können immer nur eine Basis sein. Sind ein Ausgangspunkt, von dem aus eine Individualisierung für den Schützen dann starten kann. Das bezieht sich sowohl auf Material als auch auf den Schießstil. Sämtliche Trainingsmethoden, die mal so entwickelt wurden (Positionsphasen-Modell nach Haidn, Schusszyklus nach Kisik Lee, KFS etc.), sind gute Systeme und funktionieren. Aber sie sind eben nur die Basis. Danach erfolgt immer das an den Schützen angepasste und individuelle Training oder eben im Material das "Fein-Tuning".
Vergessen darf man hier aber auf keinen Fall den Placeboeffekt, der immer einen großen Einfluss auf jeden Einzelnen hat.
Kommen wir aber zurück zum eigentlichen Thema:
Bewusst? - Unbewusst? - Beeinflussbar?
Was läuft beim Schießen bewusst und was unbewusst ab. Und wie weit können wir hier Abläufe dann überhaupt beeinflussen, wenn sie doch unbewusst ablaufen?
Es beginnt (oder begann) alles mit dem ersten Mal, dass wir einen Bogen in Hand genommen haben. Mal unbeachtet, ob dies nun unter Aufsicht eines guten Trainers stattfindet/stattfand oder im Selbststudium. Ob wir nun einen einen guten oder schlechten Schießstil entwickeln lassen wir auch mal ein wenig außen vor. Es geht um das, was dabei in unserem Gehirn geschieht. Die (klassische) Konditionierung und hier insbesondere die Langzeitpotenzierung (LTP-Long-term-Potentiation). Durch die LTP werden die Informationen in den einzelnen Nervenzellen schneller verarbeitet und gestärkt. Somit fällt es uns eben nach und nach leichter, einzelne Bewegungen auszuführen. Sie wurden "konditioniert".
Damit unser Gehirn aber nun nicht ständig jeden einzelnen Schritt bewusst abrufen und umsetzen muss, verschiebt es das ganze teilweise ins Unterbewusstsein. Wir lassen scheinbar den Dingen "ihren Lauf".
Wie bewusst oder eben auch unbewusst laufen diese Dinge denn nun aber ab? Schaut man sich hier in unserem Forum mal um, sind dort schon viele Meinungen vertreten, die unterschiedlich argumentieren. Der eine sagt, er geht Phase für Phase des Schussablaufs durch. Ein anderer nimmt den Ablauf nur als Gesamtes wahr. Wer hat recht oder was ist richtig? Ich denke jeder hat für sich recht, wenn er für ihn selbst so passt. Also doch: "Wer trifft hat recht!"?? Je nach Betrachtungsweise stimmt das durchaus, wie ich finde.
Ich kann Bogenschießen technisch (physikalisch/ballistisch ist jetzt nicht so wirklich mein Fachgebiet ) betrachten. Aber eben auch psychologisch, neurobiologisch oder gar philosophisch. Und genau das passiert ja hier im Forum. Es treffen Menschen mit den verschiedensten Backgrounds aufeinander. Vom Einsteiger, der sich hier fachlichen Rat holen möchte, über Ballistik-Experten, Bundeskaderschützen mit Jahrzehnten an praktischer Erfahrung, Bogenschützen, die sich ausgiebig jahrelang mit ihrem Material und sich selbst beschäftigt haben, Philosophen, Psychologen, Mentaltrainern und und und. Es geht quer durch sämtliche Wissensgebiete. Das macht dieses Forum ja auch aus.
Diskussionen sind da immer die logische Folge und auch willkommen.
Ich möchte hier nun noch ein Thema aufgreifen, welches immer wieder mal auftaucht und irgendwie doch zur Verwirrung und Missverständnissen führt. Bzw. ist es im Grunde ein kleiner Part, der aber im gesamten Schussablauf eine nicht unerhebliche Rolle spielen kann. Dabei ist es sowohl für die Verfechter des unbewussten als auch die Schützen, die dann eher bewusst hier vorgehen. Ich gehe erst einmal (aus meiner Erfahrung heraus) davon aus, dass Bogenschützen, die eben schon länger den Sport betreiben, vieles in dem Schussablauf nicht mehr bewusst ausführen bzw. eine bewusste Entscheidung immer treffen. Ich vergleiche das immer gerne mit dem Autofahren. Dabei entscheiden wir uns z.B. bewusst dazu, den nächsthöheren Gang einzulegen. (Ok, ich nicht. Fahre seit Jahre Automatik ) Die Einzelschritte in ihrer Art und Weise, wie sie ausgeführt werden, laufen dann aber unbewusst ab, weil evtl. schon über Jahre hin konditioniert.
1. Kupplung treten
2. Fuss vom Gas
3. nächsten Gang einlegen
4. Kupplung kommen lassen
5. und wieder Gas geben
So laufen eben auch Teile des Schussablaufes unbewusst ab und einzelne eben auch bewusst. Das wird sehr individuell sein. Da können wir langsam zum Kern des Themas kommen:
Haben wir einen freien Willen?
Es wird hier immer gerne das Experiment von dem US-amerikanischen Physiologen Benjamin Libet angeführt. Nunja, dieses ist nicht nur inzwischen sehr umstritten (auch wenn die Grundidee dahinter immer noch verfolgt wird), sondern sie ist zum Teil heute auch widerlegt. Wichtig im Vorfeld zu dieser Frage ist, wie wir das ganze betrachten möchten. Der Determinismus sagt, dass im Grunde alle (insbesondere auch zukünftige) Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind. Nunja, es mag sicher viele geben, die dieser Meinung sind, jedoch denke ich auch, dass wir uns bei unserem Sport einig sind, dass es in Bezug auf unser Schießen eher nicht so ist. (Ok, ich mag mich da auch täuschen ) Oder besser gesagt, es lässt sich nicht auf unseren Sport anwenden.
Lassen sich diese ganzen Untersuchungen zum "freien Willen" überhaupt mit unserem Sport in Verbindung bringen? Ich bin da sehr skeptisch. Nehmen wir mal eine Aussage aus unserem Forum wo ein User sagt:
Die bewußte Korrektur der Bewegung ist immer zeitlich versetzt. ......Das Bewußtsein hinkt der tatsächlichen Bewegung immer hinterher. Das Gehirn "weiß" fast eine Sekunde vorher, was wann passiert. Das Bewußtsein steht da voll "Im Dunklen"
Diese Aussage hat nichts mit den Untersuchungen in Bezug des "freien Willens" zu tun. Auch ist es eh nicht so, dass wir wissen WAS genau WANN passiert. Geht es um das in den Experimenten erwähnte Bereitschaftspotential, so weiß unser Gehirn lediglich etwa 200-300ms (andere sprechen von bis 500ms), DASS eine Entscheidung kommen wird. Nicht aber genau welche.
Auch die häufig erwähnten 4-5Sekunden, die unser Gehirn Vorlauf haben soll, bevor eine Handlung ausgeführt wird, haben im Zusammenhang mit unserer Konditionierung nichts zu tun.
Ich habe im Folgenden (als SPOILER) mal einen Artikel über die Untersuchungen von John-Dylan Haynes eingefügt.
Haynes ist ein ist ein deutsch-britischer Hirnforscher. Er studierte von 1992 bis 1997 Psychologie und Philosophie an der Universität Bremen. Im Jahre 2003 wurde er am Institut für Biologie in Bremen zum Dr. rer. nat. promoviert. Nach Forschungsaufenthalten in Magdeburg, Plymouth (Plymouth Institute of Neuroscience, 2002–2003) und London (Institute of Cognitive Neuroscience und Wellcome Department of Imaging Neuroscience, University College London, 2002–2005) wurde er 2005 Leiter einer Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Seit 2006 ist er Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neuroscience und am Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) der Charité und der Humboldt-Universität zu Berlin. (Quelle: Wikipedia).
(Als Spoiler deswegen, weil der Artikel bzw. die Auszüge recht umfangreich sind.)
Hier aus dem Artikel kann man sicher schon erkennen, dass es nicht um zuvor konditionierte Bewegungsabläufe geht. Die Bewegungen, die in den Experimenten durchgeführt werden sollten, wurden im Vorfeld ja nicht trainiert. Es gab lediglich eine Information zu dem Ablauf. Und da genau sehe ich den Grund für das Bereitschaftspotentials unseres Gehirns. Die Erfolgsquote, die nur bei ca. 50:50 (bis max. 60%) lag zeigt zusätzlich, dass es nicht wirklich eine reale Bewegungsentscheidung 1:1 im VORFELD im Gehirn gibt.
Ein weiterer Artikel dazu zeigt dann eher die Verbindung zur klassischen Konditionierung. Des sogenannten "sequentiellem Verhalten" von Bewegungsabläufen wie Fahrradfahren, Schwimmen oder eben auch Bogenschießen.
Selbst bei den Untersuchungen von John-Dylan Haynes hat sich herausgestellt, dass wir immer noch eine Veto-Möglichkeit haben, eine Entscheidung zu beeinflussen. Bis zum "Point of no return" geht das eben.
FAZIT:
Wenn wir hier im Forum also über unseren Sport mit all seinen Aspekten (Ballistik, Materialkunde, Technik, Trainingsmethoden, Sportpsychologie und Mentaltraining) sprechen, so sollten (ich finde müssen) wir die Diskussion über den freien Willen ein wenig herauslassen. Bis heute gibt es KEINE gesicherten Nachweise, ob oder ob wir eben nicht mit einem freien Willen gesegnet sind. Alleine aus dem Grund, weil die Sichtweise auf den freien Willen aus den verschiedensten Motiven heraus betrachten werden können. Philosophie, Psychologie, Neurobiologie, Religion usw...
Es macht also in meinen Augen keinen Sinn, hier darüber zu debattieren.
Es gibt ausreichende Fakten, wie Konditionierung und Langzeitpotenzierung funktioniert und wie wir auch hier Dinge unbewusst ablaufen lassen können oder müssen oder ob wir aktiv bewusst darauf zugreifen können und sollten. Wir können und müssen bei unserem Sport immer wieder mal aktiv (z.B. bei Wind oder auch zu starkem Floating des Pins im Ziel) und bewusst in den konditionierten Schussablauf eingreifen. Und das Funktioniert auch mit entsprechendem (mental-)Training.
Ich wünsche Euch ein schönes Wochenende
Gruß Markus
Weitere interessante Artikel und Videos gibts es hier:
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Libet Experiment einfach erklärt! Willensfreiheit eine Illusion? (Ethik Abitur)
Das Libet-Experiment
Libet-Experimente
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